Horizonte
Nächstenliebe auf zwei Rädern
Evelyne Spielmann,
Liebe Gemeinde
Der verkniffene Mund entspannt sich, die Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, die Augen fangen an zu leuchten und in den Augenwinkeln glitzert eine Träne. Sofort wird diese weggewischt und es folgt ein starkes Räuspern. Herr L. schaut mich an und fragt: «Ist das für mich?» «Ja,» sage ich, «das Velo ist für Sie. Wollen Sie gleich eine Runde drehen?» Ich gebe ihm den Velohelm und Herr L. radelt los. Erst noch etwas unsicher, er sei halt schon lange nicht mehr Velo gefahren, und dann immer schneller und am Schluss im Achti über den Platz. Da bleibt keine Zeit, die Tränen weg zu wischen und das Lachen im Gesicht wirkt ansteckend. Als er wieder neben mir anhält, fällt er mir um den Hals und … weint. Zwischen Schluchzern bedankt sich Herr L. bei mir für das Velo. «So ein Velo hatte ich noch nie, vielen Dank Herr Pfarrer Wagner. Sie wissen gar nicht, was mir das bedeutet. Mit dem Velo kann ich zur Arbeit fahren und brauche kein Geld mehr für den Bus. Danke, danke, danke!» Als die Emotionen abebben erzählt mir Herr L., wie er mit dem Velo in die Arbeit in der geschützten Gärtnerei fahren wird, wie er das Velo in seinem Zimmer einschliessen wird und dass es bestimmt nie im Regen stehen muss. Er erzählt mir, wie er als Kind immer ausgelacht wurde, auch weil er eben kein Velo hatte, zu Hause war kein Geld für solchen Luxus. Und er erzählt mir, wie er jetzt das teuer Busbillet einsparen kann und seine Schulden bezahlen will. Wie er mit mehr Mut in seine Zukunft schaut. Wie er sich freut, dass jemand ihm glaubt und an ihn glaubt.
Als Herr L. nach mindestens hundert Dankeschön und viel Erzählen, dann davon radelt, breitet sich in mir eine grosse Dankbarkeit aus. Da fährt sie davon, UNSERE «Nächstenliebe auf zwei Rädern». Ja, unsere. Es war ja nicht mein Velo, dass Herr L. so tief bewegt hat, nicht ich habe das gute Stück wieder in Stand gesetzt, nicht ich habe es hin und her transportiert und nicht ich habe den Velohelm gespendet. Das alles waren liebe Menschen aus unserer wunderbaren Gemeinde. Ich war, wie so oft, nur der Überbringer, EURER Nächstenliebe.
Die mindestens hundert Dankeschön von Herrn L. gebe ich an alle die lieben Menschen in unserer wunderbaren Gemeinde weiter, die solche «Akte der Nächstenliebe» möglich machen und mittragen. Danke, hundertfach, Danke! Jetzt kann Weihnachten werden!
Euer Pfarrer Stefan Wagner